Die Richtlinie ist Teil des Maßnahmenpakets zur Harmonisierung der Haftungsregeln für Künstliche Intelligenz („KI“). Denn die neue Produkthaftungsrichtlinie erstreckt sich nunmehr auch auf digitale Produkte wie digitale Konstruktionsunterlagen und Software, einschließlich KI-Systeme.
Darüber hinaus werden Entwickler oder Hersteller von Software, einschließlich der Anbieter von KI-Systemen im Sinne der KI-Verordnung (EU) 2024/1689 als Hersteller im Sinne der Richtlinie betrachtet. Sie können daher bei Schäden, die auf den Einsatz ihrer KI-Systeme zurückzuführen sind, in Anspruch genommen werden. Eine vertragliche Beziehung zwischen dem Softwarehersteller und dem Anspruchsteller ist für eine solche Inanspruchnahme nicht erforderlich.
Mit der Richtlinie sollen zum einen der veränderten Natur von Produkten im digitalen Zeitalter und den damit verbundenen Risiken Rechnung getragen werden, zum anderen soll der Schutz von Geschädigten verbessert werden.
Damit verbunden sind steigende Haftungsrisiken für Hersteller. Es wird nicht nur der Anwendungsbereich und der Kreis möglicher Haftungsgegner erweitert, sondern es werden weitreichende Beweiserleichterungen zugunsten von Geschädigten und umfangreiche Offenlegungspflichten zulasten der beklagten Unternehmen eingeführt, damit Geschädigte ihre Ansprüche besser beweisen können.
In der Praxis wird die neue Produkthaftungsrichtlinie voraussichtlich zu einem Anstieg an Rechtsstreitigkeiten führen, insbesondere in Branchen, deren Produkte am Ende der Produktions- und Lieferkette an Verbraucher gelangen (u.a. Konsumgüter-, Arzneimittel-/Medizinprodukte-, Automobil- und Softwarebranche). Dies gilt auch vor dem Hintergrund, dass Verbandsklagen in Bezug auf Produkthaftungsfragen möglich sein werden, was deutlich gravierendere Konsequenzen nach sich ziehen könnte, als dies bei Individualklagen der Fall wäre.
Welche konkreten Änderungen mit der neuen Produkthaftungsrichtlinie verbunden sind und welche Herausforderungen und Fragen sich für betroffene Unternehmen stellen, wird im Folgenden aufgezeigt.
Wesentlicher Regelungsgehalt der neuen Produkthaftungsrichtlinie
Verschärfte Haftung für Hersteller
Weitgehende Offenlegungspflichten à la USA
Die neue Produkthaftungsrichtlinie sieht nicht nur die Modernisierung der existierenden Produkthaftungsregeln, sondern eine Ausweitung des haftenden Personenkreises sowie Haftungsverschärfungen für Hersteller vor.
Zudem werden Verbraucher durch zahlreiche Neuerungen (bspw. durch Beweislastumkehrungen und durch Offenlegungspflichten) zusätzlich begünstigt und besser geschützt, wenn sie Schäden durch fehlerhafte (digitale) Produkte erleiden. Damit gehen die neuen Regeln zur Produkthaftung deutlich weiter als sie bislang normiert waren.
Die wichtigsten Änderungen im Überblick:
- Änderung des Anknüpfungspunkts der Produkthaftung: War bislang allein das Inverkehrbringen maßgeblich, kann ein Hersteller künftig auch haftbar gemacht werden, wenn er das Produkt nach dem Inverkehrbringen weiter, bspw. durch Updates der Software, kontrollieren kann.
- Erweiterung des haftenden Personenkreises: Es können nunmehr auch Hersteller von Komponenten, Personen, die Produkte wesentlich verändern, sowie Importeure oder EU-Vertreter von Herstellern, die außerhalb der EU ansässig sind, deren Produkte aber in die EU importiert und an Verbraucher vertrieben werden, in Anspruch genommen werden; ebenso können sog. Fulfilment-Dienstleister sowie Lieferanten und Online-Plattformen haften.
- Offenlegungspflichten: Einführung einer Offenlegungspflicht der Unternehmen, wonach beklagte Unternehmen in ihrem Besitz befindliche Beweismittel zur Begründung des Anspruchs des Klägers herausgeben müssen. Der Schutz von Geschäftsgeheimnissen soll weiterhin gewährleistet sein.
- Ausweitung der Beweiserleichterungen für Geschädigte: Vermutung der Fehlerhaftigkeit des Produkts und/oder der Kausalität zwischen Fehlerhaftigkeit des Produkts und Schaden. Vermutungen können auch vorliegen, wenn der Nachweis aufgrund der technischen oder wissenschaftlichen Komplexität übermäßig schwierig ist.
Im Einzelnen:
Anwendungsbereich
Die neue Produkthaftungsrichtlinie gibt natürlichen Personen das Recht, von Herstellern von Produkten und in einigen Fällen von Komponenten, die auf den EU-Markt gebracht oder in der EU in Betrieb genommen wurden, auf der Grundlage verschuldensunabhängiger Haftung Schadensersatz für bestimmte Schäden zu verlangen, die ihnen aufgrund eines Fehlers dieses Produkts entstanden sind.
Die neue Produkthaftungsrichtlinie definiert „Produkt“ sehr weit und umfasst auch (KI-)Software (Art. 4 Nr. 1). Das gilt unabhängig davon, ob die Software auf einem Gerät gespeichert oder über ein Kommunikationsnetz oder Cloud-Technologien abgerufen oder durch ein Software-as-a-Service-Modell bereitgestellt wird.
„Komponente“ bezeichnet jeden Gegenstand, Rohstoff oder verbundenen Dienst (wie bspw. ein Navigationssystem oder einen Sprachassistenten), der in ein Produkt integriert oder mit dem Produkt verbunden ist (Art. 4 Nr. 4). Mithin erfasst die neue Produkthaftungsrichtlinie (digitale) Dienste, die in ein Produkt integriert sind, obwohl sie sich im Allgemeinen nicht auf Dienstleistungen erstreckt.
Einen ersatzfähigen Schaden im Sinne der Richtlinie stellt auch die Vernichtung oder Beschädigung von Daten dar, sofern diese nicht ausschließlich für berufliche Zwecke verwendet werden (Art. 6 Abs. 1 Buchst. c).
Fehlerhaftigkeit
Zur Beurteilung der Fehlerhaftigkeit erfolgt wie bisher eine objektive Analyse der Sicherheit, die die breite Öffentlichkeit erwarten darf und nicht der Sicherheit, die eine ganz bestimmte Person erwarten darf.
Die neue Produkthaftungsrichtlinie listet in Art. 7 Abs. 2 nicht abschließend mehrere Faktoren auf, die bei der Beurteilung der Fehlerhaftigkeit relevant werden können (u.a. die Auswirkungen von Fähigkeiten nach Einsatzbeginn zu lernen oder neue Funktionen zu erwerben, wie es bei KI-Systemen der Fall sein kann, oder Cybersicherheitsanforderungen).
Eine bemerkenswerte Änderung im Vergleich zur bisherigen Produkthaftungsrichtlinie stellt der Zeitpunkt für das Vorliegen der Fehlerhaftigkeit dar: So wird künftig nicht nur auf den Zeitpunkt des Inverkehrbringens, sondern auch auf den Zeitraum abgestellt, in welchem das Produkt nach dem Inverkehrbringen weiter (bspw. durch das Vorliegen oder Fehlen von Software (Updates und Upgrades) oder einer wesentlichen Änderung) der Kontrolle des Herstellers unterliegt (vgl. Art. 7 Abs. 2 Buchst. e).
Erfolgt eine wesentliche Änderung durch ein Software-Update oder -Upgrade oder aufgrund des kontinuierlichen Lernens eines KI-Systems, so soll davon ausgegangen werden, dass das veränderte Produkt zum Zeitpunkt dieser Änderung auf dem Markt bereitgestellt oder in Betrieb genommen wurde.
Anspruchsteller und Anspruchsgegner
Auf der Seite des Geschädigten können stehen:
- Die natürliche Person, die den Schaden erlitten hat oder eine Person, auf die der Anspruch der geschädigten Person übergegangen ist, sowie
- eine Person, die aufgrund von EU- oder nationalem Recht im Namen einer oder mehrerer geschädigter Personen handelt (bspw. nach den Gesetzen der Mitgliedstaaten zur Umsetzung der Richtlinie über Verbandsklagen (EU) 2020/1828) (Art. 5 Abs. 2).
Hierdurch wird die Möglichkeit von Verbandsklagen im Zusammenhang mit Produkthaftung in der gesamten EU eröffnet.
Auf der Seite des Schädigers können demgegenüber stehen:
- Der Hersteller des fehlerhaften Produkts (Art. 8 Abs. 1 Buchst. a) und
- der Hersteller einer fehlerhaften Komponente, wenn diese Komponente unter der Kontrolle des Herstellers in ein Produkt integriert oder damit verbunden wurde (Art. 8 Abs. 1 Buchst. b).
Wenn der Schaden durch eine fehlerhafte Komponente verursacht wurde, kann die natürliche Person vom Hersteller der Komponente und/oder vom Hersteller des Produkts Schadensersatz verlangen. Dadurch können auch Unternehmen ohne direkten Kontakt zu Verbrauchern von Ersatzansprüchen betroffen sein. Mehrere Unternehmen haften als Gesamtschuldner (Art. 12 Abs. 1).
Wenn der Hersteller außerhalb der EU ansässig ist, können gem. Art. 8 Abs. 1 Buchst. c Ansprüche auch geltend gemacht werden gegen:
- den Importeur,
- den Bevollmächtigten des Herstellers oder
- den Fulfilment-Dienstleister.
Wenn der Kläger den Hersteller oder, im Falle von Herstellern außerhalb der EU, eines der oben genannten Unternehmen nicht identifizieren kann, kann unter bestimmten Voraussetzungen sogar jeder Lieferant des Produkts für den Schaden haftbar gemacht werden (Art. 8 Abs. 3).
Auch Anbieter von Online-Plattformen können unter bestimmten Umständen haften (Art. 8 Abs. 4). Dadurch sollen möglichst lückenlos sämtliche Wirtschaftsakteure entlang der Herstellungs- und Lieferkette erfasst werden.
Schließlich kann derjenige in Anspruch genommen werden, der ein Produkt außerhalb der Kontrolle des ursprünglichen Herstellers wesentlich verändert und es anschließend auf dem Markt bereitstellt oder in Betrieb nimmt (Art. 8 Abs. 2).
Offenlegungspflichten
Die wohl einschneidendste Änderung bringt die Richtlinie durch die eingeführten Offenlegungspflichten für Unternehmen mit sich. Diese gelten auch bei Verbandsklagen und können mithin weitreichende Folgen für betroffene Unternehmen haben. Die neuen Offenlegungspflichten sind im Grundsatz der anglo-amerikanischem Disclosure of Documents nachempfunden, wonach Beklagte in ihrem Besitz befindliche relevante Beweismittel zur Begründung des Anspruchs des Klägers herausgeben müssen.
Begründet werden die weitgehenden Offenlegungspflichten unter anderem mit der Tatsache, dass der Kläger keinen Einblick in die Funktionsweise der KI-Systeme hat (sog. „Black Box“-Phänomen) und daher deren Fehlerhaftigkeit und die Ursächlichkeit für einen Schaden nur äußerst schwer nachvollziehen und nachweisen kann.
Um in den Genuss einer Offenlegung zu kommen, ist erforderlich, dass die geschädigte Person entweder Tatsachen vorgetragen oder Beweise vorgelegt hat, „welche die Plausibilität ihres Schadensersatzanspruchs ausreichend stützen“ (Art. 9 Abs. 1) oder „mit denen ausreichend nachgewiesen wird, dass der Beklagte Beweismittel benötigt, um sich gegen eine Schadensersatzklage zu verteidigen“ (Art. 9 Abs. 2).
Auf Anfrage muss das beklagte Unternehmen dann die entsprechenden Beweise wie bspw. Konstruktionsunterlagen oder dokumentierte Erkenntnisse aus der Produktbeobachtung offenlegen. Die Offenlegung soll auf ein erforderliches und verhältnismäßiges Maß beschränkt sein und die berechtigten Interessen der beteiligten Parteien/Dritter berücksichtigen (Art. 9 Abs. 3 und Abs. 4).
Unter Berücksichtigung der Komplexität bestimmter Arten von Beweismitteln, insbesondere im Zusammenhang mit digitalen Produkten, können Gerichte verlangen, dass Beweismittel in leicht zugänglicher und verständlicher Weise vorgelegt werden (Art. 9 Abs. 6). Das kann unter Umständen mit einer Aufbereitung vorhandener Informationen in neuen Dokumenten verbunden sein.
Kommt das beklagte Unternehmen seinen Offenlegungspflichten nicht nach, sieht die Richtlinie einen Sanktionsmechanismus vor, in dem die Fehlerhaftigkeit des Produkts schlicht vermutet wird (siehe sogleich).
Ein gewisser Schutz der Unternehmen vor einer Offenlegung soll nach der Richtlinie bei vertraulichen Informationen und Geschäftsgeheimnissen möglich sein (Art. 9 Abs. 5). Nationale Gerichte sind befugt, nicht aber verpflichtet, entsprechende Schutzmaßnahmen zu ergreifen. Die Qualifikation eines Beweismittels als Geschäftsgeheimnis führt insofern nicht automatisch zum Wegfall der Offenlegungspflicht.
Zudem beziehen sich die vorgesehenen Maßnahmen nur auf den Schutz von Geschäftsgeheimnissen im Sinne der Richtlinie (EU) 2016/943. Keinen Schutz in diesem Sinne bietet die neue Produkthaftungsrichtlinie nach ihrem Wortlaut für andere Arten vertraulicher Informationen oder geistiges Eigentum, es sei denn, ein Mitgliedstaat hat derartige Vorschriften auf nationaler Ebene erlassen.
Beweiserleichterungen
Erhebliche Folgen in der Praxis werden wohl auch die neu eingeführten Beweiserleichterungen mit sich bringen:
Nach der neuen Produkthaftungsrichtlinie wird in bestimmten Situationen der Fehler eines Produkts und/oder der Kausalzusammenhang zwischen dem Fehler und dem Schaden vermutet. Die Beweislast verlagert sich somit fast vollständig auf das beklagte Unternehmen, welches wiederum das Recht hat, die Vermutungen zu widerlegen (Art. 10 Abs. 5).
Die Fehlerhaftigkeit des Produkts wird vermutet, wenn:
- der Beklagte seiner Verpflichtung zur Offenlegung von relevanten Beweismitteln (gem. Art. 9; s.o.) nicht nachgekommen ist (Art. 10 Abs. 2 Buchst. a), oder
- der Kläger nachweist, dass das Produkt verbindliche Sicherheitsanforderungen der EU oder der Mitgliedstaaten, die Schutz vor dem Risiko des eingetretenen Schadens bieten sollen, nicht erfüllt (Art. 10 Abs. 2 Buchst. b), oder
- der Kläger nachweist, dass der Schaden durch eine offensichtliche Funktionsstörung des Produkts bei einem vernünftigerweise vorhersehbaren Gebrauch oder unter gewöhnlichen Umständen verursacht wurde (Art. 10 Abs. 2 Buchst. c).
Der Kausalzusammenhang zwischen dem Produktfehler und dem Schaden wird dann vermutet, wenn sowohl festgestellt wurde, dass das Produkt fehlerhaft ist als auch der entstandene Schaden seiner Art nach typischerweise auf den betreffenden Fehler zurückzuführen ist (Art. 10 Abs. 3).
Darüberhinausgehend wird die Fehlerhaftigkeit eines Produkts und/oder der Kausalzusammenhang auch dann vermutet, wenn
- es für den Kläger trotz Offenlegung von Beweismitteln und unter Berücksichtigung aller relevanten Umstände des Falls „übermäßig schwierig“ ist (v.a. aufgrund der technischen oder wissenschaftlichen Komplexität, bspw. bei KI-Systemen), die Fehlerhaftigkeit und/oder den Kausalzusammenhang nachzuweisen und
- der Kläger nachgewiesen hat, dass das Produkt wahrscheinlich fehlerhaft war und/oder seine Fehlerhaftigkeit den Schaden wahrscheinlich verursacht hat (Art. 10 Abs. 4).
Haftungsbeschränkungen
Zuletzt bestimmt Art. 15, dass die Haftung nicht durch vertragliche Bestimmungen oder nationale Rechtsvorschriften eingeschränkt oder ausgeschlossen werden darf.
Dies wird zu einem ersatzlosen Entfall der bislang geltenden Selbstbehalte (EUR 500 für Sachschäden) und Haftungshöchstgrenzen (EUR 85 Mio. bei Personenschäden) sowie einer Einschränkung der bislang zugunsten der haftenden Wirtschaftsakteure existierenden Haftungsausschlüsse führen. Eine fehlende Erkennbarkeit des Produktfehlers bei Inverkehrbringen entlastet den Hersteller bspw. künftig nicht mehr, wenn der Fehler durch ein Sicherheits-Softwareupdate hätte behoben werden können.
Zeitlicher Horizont
Die Richtlinie tritt am 8. Dezember 2024, zwanzig Tage nach ihrer Veröffentlichung im Amtsblatt der EU, in Kraft. Die Mitgliedstaaten haben dann zwei Jahre – bis zum 9. Dezember 2026 – Zeit, um sie in nationales Recht umzusetzen.
Die neue Produkthaftungsrichtlinie gilt nur für Produkte, die nach Ablauf der zur Umsetzung der neuen Produkthaftungsrichtlinie gewährten Frist auf den Markt gebracht oder in Betrieb genommen werden.
Offene Fragen für Hersteller
Für Hersteller (digitaler) Produkte stellen sich mit der Verabschiedung der Richtlinie zahlreiche Fragen, unter anderem:
- Ein Produkt ist fehlerhaft im Sinne der Produkthaftungsrichtlinie, wenn es nicht die Sicherheit bietet, die eine Person erwarten darf. Welche berechtigten Sicherheitserwartungen kann ein durchschnittlicher Verbraucher bspw. an ein so komplexes System wie KI überhaupt stellen?
- Wann gilt eine Beweisführung als „übermäßig schwierig“, damit die Vermutungsregelungen zugunsten des Geschädigten greifen?
- Anhand welcher Maßstäbe entscheidet das Gericht, welches die einschlägigen Beweismittel sind, die für die Geltendmachung des Anspruchs offengelegt werden müssen? Wie weitreichend wird die Offenlegungspflicht verstanden?
- Wann ist die Offenlegung erforderlich und verhältnismäßig? Wie soll ein Richter, der zwar im nationalen Recht, nicht aber technisch ausgebildet ist, diese Erfordernisse in Bezug auf technische Dokumentation beurteilen?
- Wie können Gerichte sicherstellen, dass Geschäftsgeheimnisse der Beklagten hinreichend geschützt werden? Wonach beurteilt sich, ob Rechtsbehelfe gegen die Offenlegung vertraulicher Unterlagen zulässig und begründet sind?
Ausblick
Ziel: Rechtssicheres Haftungsregime
Problem: Erhebliche praktische und prozessuale Unsicherheiten
Die neue Produkthaftungsrichtlinie soll durch die Schaffung von mehr Rechtssicherheit und gleichen Wettbewerbsbedingungen die Akzeptanz und das Vertrauen in neue Technologien einschließlich KI stärken und somit zu Innovationen und der weiteren Entwicklung und Nutzung solcher Produkte in der EU beitragen.
Gleichzeitig soll sie sicherstellen, dass Geschädigte unabhängig von der betreffenden Technologie von demselben Schutzniveau profitieren. Es soll mithin ein fairer Ausgleich zwischen den berechtigten Interessen der Geschädigten und der Produkthersteller geschaffen werden.
Allerdings könnte die Richtlinie auch einen gegenteiligen Effekt nach sich ziehen, da die Unternehmen durch die weitreichenden und in ihrer praktischen Umsetzung unklaren Offenlegungspflichten sowie Vermutungsregelungen nicht unerheblich belastet werden.
Darüber hinaus ist die konkrete Anwendung der Regelungen durch die Zivilgerichte ungewiss. Die Produkthaftungsrichtlinie enthält zahlreiche unbestimmte Rechtsbegriffe und neue Vermutungsregeln, die denkbar weit formuliert sind und daher in der Praxis erhebliche Probleme bei der Auslegung ihrer Voraussetzungen schaffen können. Wie Gerichte mit den weitreichenden Neuerungen und dem eingeräumten (weiten) Ermessen umgehen werden, ist derzeit noch nicht absehbar.
Unternehmen müssen sich innerhalb der Umsetzungsfrist von zwei Jahren auf die verschärften Produkthaftungsregeln einstellen. Sie sollten
- prüfen, ob ihre Erzeugnisse nunmehr in den Anwendungsbereich der Richtlinie fallen (bspw. als Software),
- prüfen, ob sie bspw. als Hersteller von Komponenten, als Importeur oder Fulfilment-Dienstleister nunmehr als Haftungsadressat in Betracht kommen,
- gegebenenfalls ihren Versicherungsschutz anpassen und Verantwortlichkeiten vertraglich neu regeln,
- eine Strategie zum Umgang mit den Offenlegungspflichten, insbesondere zum Schutz ihrer Geschäftsgeheimnisse entwickeln und
- eine ausreichende und leicht verfügbare Dokumentation für bestehende und zukünftig eingesetzte (digitale) Produkte sicherstellen, um wirksam vor Haftungsansprüchen geschützt zu sein. Führten bislang Zweifel beim Nachweis der Fehlerhaftigkeit oder des Kausalzusammenhangs eher zur Abweisung eines Anspruchs, muss der Hersteller nunmehr eine gegen ihn greifende Vermutung entkräften, wodurch er das Risiko einer Unaufklärbarkeit trägt.
Im Ergebnis sind praktische Unsicherheiten sowie eine potenziell weitreichende Handhabung der Offenlegungspflichten nicht von der Hand zu weisen. Auch wenn der nationale Gesetzgeber die Änderungen der Produkthaftungsrichtlinie noch kodifizieren muss, zeigen die aufgeführten Herausforderungen, dass Unternehmen rechtzeitig handeln und die Zeit bis dahin nutzen sollten.